Am Freitag hat der Bundestag die Wahlrechtsreform beschlossen. Was sind die Folgen und wer sind die Benachteiligten?

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Am Freitag hat der Bundestag die Wahlrechtsreform beschlossen. Was sind die Folgen und wer sind die Benachteiligten?

Der Wegfall der Grundmandatsklausel und das damit wahrscheinlicher gewordene Ausscheiden von Linkspartei und CSU hat für Kritik gesorgt; beide Parteien haben gedroht, beim Bundesverfassungsgericht zu klagen. Die Ampelkoalition argumentiert dagegen mit der Verkleinerung des Parlaments.

Was sind die Folgen dieser Wahlrechtsreform und wer sind die Benachteiligten?

Als Ergebnis der Wahlrechtsreform, die der Bundestag am Freitag beschlossen hat, wird die Größe des Bundestages begrenzt und die Anzahl der Abgeordneten reduziert. Die Grundmandatsklausel, die besagte, dass eine Partei in einem Wahlkreis mindestens 5% der Stimmen benötigt, um einen Sitz im Parlament zu erhalten, wird abgeschafft. Dadurch wird es kleineren Parteien einfacher gemacht, in den Bundestag einzuziehen.

Allerdings wird diese Reform auch dazu führen, dass die Anzahl der Überhangmandate reduziert wird. Das sind zusätzliche Mandate, die eine Partei erhalten kann, wenn sie in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen würden. Dadurch werden die großen Parteien, die in der Vergangenheit von Überhangmandaten profitiert haben, benachteiligt.

Ein weiterer Effekt der Reform könnte sein, dass die Linke und die CSU aufgrund des Wegfalls der Grundmandatsklausel möglicherweise nicht mehr im Bundestag vertreten sein werden. Diese Parteien haben bereits angekündigt, gegen die Reform vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen, da sie sich benachteiligt fühlen.

Insgesamt ist es schwer abzuschätzen, welche konkreten Auswirkungen die Wahlrechtsreform haben wird. Es ist jedoch klar, dass sie einige Parteien benachteiligen könnte, während sie anderen Parteien den Weg in den Bundestag erleichtert.

Lesen Sie hier bei uns das Interview, welches Holger Douglas mit Ulrich Vosgerau geführt hat:  

„Wie die CDU sich bei der Wahlrechtsreform selbst ein Bein gestellt hat“

Der Autor ist der Wissenschafts- und Technikjournalist Holger Douglas, der schon  seit langem Dokumentationen mit Schwerpunkt »Wissenschaft und Technik«. produziert und früher für die öffentlich-rechtlichen Anstalten arbeitete, als die noch Etats und einen Sinn dafür hatten. Heute arbeitet Douglas für Sender auf dem weltweiten Markt, darunter das erste wöchentliche Wissenschaftsmagazin »An Kathab« für den arabischen Sender Al Jazeera.

Interview mit Ulrich Vosgerau

Wie die CDU sich bei der Wahlrechtsreform selbst ein Bein gestellt hat

In der Rechtsgeschichte ist jede Wahlrechtsreform in Deutschland betrieben worden, um eine oder mehrere Parteien zu bevorteilen oder zu benachteiligen. So ist zum Beispiel die heute so wichtige Fünf-Prozent-Klausel von der FDP durchgesetzt worden. Das Ziel der FDP war, die anderen, noch kleineren Parteien aus dem Bundestag zu drängen.

Am Freitag hat der Bundestag die Wahlrechtsreform beschlossen. Der Wegfall der Grundmandatsklausel und das damit wahrscheinlicher gewordene Ausscheiden von Linkspartei und CSU hat für Kritik gesorgt; beide Parteien haben gedroht, beim Bundesverfassungsgericht zu klagen. Die Ampelkoalition argumentiert dagegen mit der Verkleinerung des Parlaments. Der Verfassungsrechtler Dr. Ulrich Vosgerau erklärt das neue Wahlrecht und seine Tücken im Interview.

Douglas: Herr Vosgerau, sagen Sie uns doch als Staats- und Verfassungsrechtler, was sind denn die Hintergründe dieser Wahlreform?

Ulrich Vosgerau: Der Hintergrund der Wahlrechtsreform ist in erster Linie, dass der Bundestag zu groß ist und sich stetig vergrößert. Allerdings kann jegliches Parlament immer nur eine bestimmte Größe haben: Irgendwann ist die Arbeitsfähigkeit nicht mehr gewährleistet, weil man sich gegenseitig nicht mehr kennt und weil jeder Ausschuss zu groß wird. Im Moment sitzen weit über 700 Abgeordnete im Bundestag. Nach der jetzigen Gesetzeslage sollten es eigentlich 598 sein. Diese Zahl kann jedoch schon aufgrund der sogenannten Überhangmandate niemals eingehalten werden. Hinzu kommt, dass die Überhangmandate nicht so stehen bleiben dürfen, sondern weitere Ausgleichsmandate nach sich ziehen.

Da vermehren sich ja die Abgeordnetenmandate wie der Hefebrei im Milchtopf. Wie funktioniert denn das mit den Überhangmandaten?

Überhangmandate entstehen nach gegenwärtiger Rechtslage, weil ein Abgeordneter, der in einem beliebigen Wahlkreis die meisten Erststimmen gewinnt, damit automatisch als direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter in den Deutschen Bundestag einzieht. Dadurch wird aber der eigentlich vorgesehene Parteienproporz, der aus dem Zweitstimmenergebnis resultiert, durcheinander gebracht. Die CSU, zum Beispiel, gewinnt in Bayern fast jeden Wahlkreis: Bei der letzten Wahl hat die CSU 45 von 46 bayerischen Wahlkreisen gewonnen. Trotzdem hat die CSU in Bayern deutlich weniger als 40 Prozent der Zweitstimmen. So kommt es zu den Überhangmandaten, derzeit hat die CSU 11 davon. Das bedeutet, eine Partei hat durch die Direktmandate mehr Sitze im Bundestag, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustehen würden. Das muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeglichen werden, da in Deutschland ein personalisiertes Verhältniswahlrecht gilt. Das bedeutet: Die Zusammensetzung des Bundestages soll das Zweitstimmenergebnis ziemlich genau abbilden. Demnach müssen die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden. Also werden mehr Mandate von den Listen der übrigen Parteien hinzugezogen und der Bundestag wird größer und größer.

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Jedes Wahlrecht hat seine Vor- und Nachteile. Es scheint, dass sie immer polit-technisch ausgenutzt werden, oder?

Ja, da haben Sie recht: In der Rechtsgeschichte ist jede Wahlrechtsreform in Deutschland betrieben worden, um eine oder mehrere Parteien zu bevorteilen oder zu benachteiligen. So ist zum Beispiel die heute so wichtige Fünf-Prozent-Klausel von der FDP durchgesetzt worden. Das Ziel der FDP war, die anderen, noch kleineren Parteien aus dem Bundestag zu drängen. Die FDP selbst hatte mit der Fünf-Prozent-Klausel kaum Probleme, solange es das Drei-Parteien-System gab.

Was ist die Grundidee dieser von der Ampelkoalition vorgeschlagenen Reform?

Die Grundidee des neuen Wahlmodells finde ich gar nicht schlecht. Das Modell wurde aber nicht von der Ampelkoalition erfunden. Es handelt sich um ein Modell, das die AfD-Fraktion dem Deutschen Bundestag bereits im Oktober 2020 vorgelegt hat. Die AfD-Fraktion hat damals die Reformvorschläge eines sehr bekannten Verfassungsrechtlers der Humboldt-Universität, Hans Meyer, übernommen. Dieses Modell sieht vor, dass die Zahl der Bundestagsabgeordneten auf die gesetzlich angeordneten 598 beschränkt bleibt. Das wird erreicht, indem nicht jeder Abgeordnete, der die meisten Erststimmen in seinem Wahlkreis gewonnen hat, automatisch Bundestagsabgeordneter wird. Stattdessen wird ein auf den ersten Blick direkt gewählter Abgeordneter zunächst nur Wahlkreis-Kandidat für den Bundestag. Sein Wahlkreis-Mandat bekommt dieser Abgeordnete dann aber nur, wenn auch das Zweitstimmenergebnis seiner Partei dies rechtfertigt. Folglich zieht dann zuerst der Wahlkreis-Kandidat mit dem höchsten Erststimmenanteil in seinem Wahlkreis auch in den Bundestag ein, dann der mit den zweithöchsten Erststimmenanteil und so weiter. Diejenigen nach dem heutigen System stets direkt gewählten Abgeordneten, die aber nur vergleichsweise wenige Erststimmen haben, würden am Ende nicht mehr berücksichtigt. So könnte es dazu kommen, dass ein Wahlkreis gar nicht direkt im Bundestag vertreten ist.

Ich halte das aber für verfassungsrechtlich zulässig. Es gibt heute Abgeordnete, die mit 20 oder noch weniger Prozent Erststimmenanteil direkt gewählte Wahlkreisvertreter werden – das halte ich nicht für zwingend. Ein Kandidat hingegen, der in seinem Wahlkreis über 30 oder gar 40 Prozent der Erststimmen erhält, würde eigentlich auch im neuen System immer berücksichtigt werden, er stünde ja weit vorn auf der Kandidatenliste. Bis hierher würde ich die Reform der Ampelkoalition grundsätzlich für unterstützenswert halten. Besonders auch, weil es das Hans-Meyer-Modell fertigbringt, das Zweitstimmenergebnis exakt abzubilden, ohne dabei die vorgeschriebene Grenze von 598 Bundestagsabgeordneten zu überschreiten.

Allerdings: Ausgerechnet in diesem wichtigen Punkt ist man im Zuge der jetzigen Beratungen, anders als 2020 noch die AfD-Fraktion, von der „Reinen Lehre“ Hans Meyers abgewichen. Man hat nämlich die gesetzliche Zahl der Bundestagsabgeordneten von 598 auf 630 erhöht, um die Zahl der im Ergebnis doch nicht berücksichtigten Wahlkreiskandidaten möglichst zu vermindern bzw. zu minimieren. Ich halte das nicht für richtig, da hierdurch ja das eigentliche Ziel der Reform, nämlich die Verkleinerung des Bundestages, erheblich verwässert wird.

Das eigentliche Problem ist aber, dass die Ampelkoalition den AfD-Entwurf in noch einem entscheidenden Punkt abgeändert und ergänzt hat: Zusätzlich soll nun auch die sogenannte Drei-Mandats-Klausel abgeschafft werden. Diese besagt, dass eine Partei, die weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen im Bund auf sich vereint, dennoch aus ihren Landeslisten die ihr prozentual zustehenden Abgeordneten in den Bundestag schicken kann, wenn sie drei Direktmandate in Wahlkreisen gewonnen hat. Die Linke hat weniger als 5 Prozent der bundesweiten Stimmen, aber drei Direktmandate aus ihren Wahlkreisen. Somit zieht die Linke zum einen mit diesen drei direkt gewählten Abgeordneten in den Bundestag ein, und zum anderen mit weiteren Abgeordneten, die der Linken entsprechend des Zweitstimmen-Ergebnisses aus den Landeslisten zugeteilt werden, insgesamt hat sie 39 Abgeordnete im Bundestag. Die drei Mandate ersetzen also die 5 Prozent. Genau das soll jetzt aber ersatzlos wegfallen. Man muss nach dem neuen Modell der Ampelkoalition bundesweit mindestens 5 Prozent der Stimmen ergattern, um überhaupt in den Bundestag einziehen zu können.

Die CSU zieht bis dato ja auch über die Direktmandate in den Bundestag ein. Was hat die Wahlreform denn für diese Partei zu bedeuten?

Ja genau, das ist das Problem: Das würde dazu führen, dass die CSU, wenn sie bei der nächsten Bundestagswahl bundesweit unter 5 Prozent der Stimmen kommt, mit keinem einzigen Abgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten wäre, obwohl sie in Bayern mehr als 40 Direktmandate gewinnt. Wahrscheinlich würden alle ihre Direktmandate dann einfach unter den Tisch fallen. Derzeit hat die CSU bundesweit 5,2 Prozent der Stimmen, aber 45 Direktmandate. Das bedeutet, wenn sie noch ein paar weitere Stimmen verliert, dann wäre sie mit keinem ihrer 45 direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag vertreten. Das geht meines Erachtens einen Schritt zu weit und ist undemokratisch. Denn im allgemeinen ist es ja auch so, dass die CSU-Direktkandidaten in Bayern ihre Wahlkreise nicht mit 20% der Erststimmen gerade so eben noch gewinnen, sondern meist doch mit satten Mehrheiten. Das kann man nicht einfach übergehen!

Interessant daran ist, dass diese Ergänzung der Ampelkoalition vor der Diskussion noch nicht im Gesetzesentwurf stand. Erst während der Diskussion des Gesetzes wurde dies ergänzt – ausgerechnet auf den Vorschlag der CDU, die diesen Effekt offenbar übersehen hat. Die CDU hat sich überlegt, wie sie der Linken schaden könnte. Dabei hat die CDU allerdings übersehen, dass sie so auch der CSU schadet. Ich kann den Denkfehler gut nachvollziehen, man hat eben aus alter Gewohnheit gesagt: Ist die Drei-Mandate-Klausel weg, ist die Linke weg, der CSU kann das egal sein, die hat ja immer über vierzig Mandate! Aber das stimmt eben nur im alten System, wo man allein durch Erststimmen Bundestagsabgeordneter werden konnte. Im neuen System wird aber niemand allein durch Erststimmen Bundestagsabgeordneter, diese müssen durch Zweitstimmen gedeckt sein, und diese unterliegen wiederum der 5-Prozent-Klausel, und zwar bundesweit gerechnet, nicht nur für Bayern.

Schafft die CSU nach der nun beschlossenen Wahlreform nicht die Fünf-Prozent-Hürde, stünde die CDU allein im Bundestag da, weil sie entsprechend keine Fraktionsunion mit der CSU bilden könnte. Das ist übrigens eine alte Überlegung, ein alter Wunsch der SPD. Man hat dort längst realisiert, dass die Stärke der Union im Bund, ihre verlässliche Überlegenheit gegenüber der SPD bei den Bundestagswahlen zwischen 2005 und 2021 vor allem an den vergleichsweise guten Wahlergebnissen der CSU in Bayern lag, gar nicht so sehr an der Beliebtheit Angela Merkels, die die Medien gern herausstellten. Der SPD war schon länger klar: eine Union ohne CSU, also die CDU allein, ist auch nicht stärker als die SPD!

Es ist ja nun alles relativ schnell gegangen. Am Dienstag wurde beschlossen, dass am Freitag über die Wahlrechtsreform abgestimmt wird. Nun wurde die Wahlrechtsreform beschlossen. Warum diese Eile?

Ja, das ist mir selbst ein bisschen schleierhaft. Ich könnte mir vorstellen, dass die Ampelregierung möglichst schnell abstimmen wollte, da sie hoffte, die Reform durchzusetzen, bevor die Unionsparteien die Konsequenzen dieser Reform für die CSU bemerken. Zwar ist die Union in den letzten Tagen aufgewacht und hat bereits angekündigt, beim Bundesverfassungsgericht Klage einzureichen, doch ist die Wahlrechtsreform nun erstmal beschlossen. Käme es nun zu vorgezogenen Neuwahlen – dies ist, auch durchaus bundesweit und nicht nur in Berlin, keineswegs ausgeschlossen, denn die Bundestagswahl von 2021 dürfte allein wegen des viel zu hohen Briefwähleranteils bundesweit verfassungswidrig gewesen sein! – dann müssten sich CDU und CSU eigentlich zu einer einheitlichen Partei zusammenschließen, und sei es nur vorübergehend. Nur so könnte die CDU/CSU nämlich verhindern, dass die zahlreichen Direktmandate der CSU unter Umständen ganz unter den Tisch fallen. Es kann verfassungsrechtlich nicht sein, dass die CSU über 40 Mandate in Bayern gewinnt – die meisten davon mit eindrucksvoller Mehrheit – und dennoch nicht in den Bundestag einzieht. Das entspricht nicht dem Anspruch des Grundgesetzes.

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